Als Bentje nach einer unruhigen Nacht erwachte, fühlte sich ihr Körper an, als hätte sie an einem Marathon teilgenommen. Alles schmerzte. Die Gedanken in ihrem Kopf drangsalierten sie mit Spitzen und Haken und ihr Innerstes schien wund und brennend. Sie hielt die Augen weiter geschlossen, unfähig, sich dem Tag zu stellen, und horchte. Neben ihr schnaufte Georg, und wälzte sich herum. Von Ole hörte sie nichts.
Noch immer konnte sie nicht fassen, wie Georg sie behandelt hatte. Die leisen Alarmglocken, die in ihr geläutet hatten, als er seinen Sohn aus heiterem Himmel zu ihrem geplanten Kurzurlaub mitgebracht hatte, waren zu ausgewachsenen Signalhupen angeschwollen. Wie hatte sie sich nur so in Georg täuschen können? Obwohl, es war ja nicht das erste Mal, dass ein Mann, dem sie ihr Herz schenkte, sich als Mistkerl entpuppte. Dabei hatte sie sich geschworen, vorsichtig zu sein, nicht auf jede nette Geste hereinzufallen und nie wieder ihre Bedürfnisse hintenan zu stellen, nur um einem Kerl zu gefallen. Und doch war sie hier, lag verletzt und gedemütigt in diesem Wohnmobil, bei einem sexistischen Chauvi und seinem grantigen Sohn.
Während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, streckte sich Georg, fegte die Decke beiseite, stand auf und verließ den Camper. Bentje war stocksteif liegen geblieben. Sie hatte sie keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Vielmehr – wie sie Georg je wieder gegenüber treten könnte.
Durch das Klappern der Tür war der Junge aufgewacht. Es dauerte nicht lange, bis auch er das Wohnmobil verließ. Bentje hörte nichts. Entweder, die beiden hatten sich ein Stück weit entfernt, oder sie standen schweigend draußen vor der Tür. Alles war denkbar. Mittlerweile hatte Bentje erkannt, dass das Verhältnis der beiden nicht nur angespannt war. Letztlich konnte sie Ole die Feindseligkeit, mit der er auf seinen Vater reagierte, nicht einmal vorwerfen. Wenn er sich seinem Sohn gegenüber nur halb so grässlich verhielt, wie er es bei ihr getan hatte – und die letzten Stunden ließen das vermuten – dann hatte sich Georgs Vater-Sein damit erledigt.
Bentje nutzte die Gunst des Alleinseins und schlüpfte aus dem Bett. Sie absolvierte eine Katzenwäsche, zog Rock und Bluse vom Vortag an, atmete tief ein, straffte die Schultern und öffnete die Tür des Wohnmobils. Ihr Entschluss stand fest, sie wusste, was sie Georg sagen würde.
*****
„Guten Morgen, meine Schöne“, begrüßte Georg sie und hielt ihr einen Pappbecher dampfenden Kaffees entgegen. „Hast du gut geschlafen?“
Bentje, zu perplex, um zu antworten, nahm den Becher und starrte Georg an.
„Schau nur, der blaue Himmel“, sagte er und beschrieb einen weiten Kreis mit seinem Arm. „Das wird ein herrlicher Tag heute.“
Bentjes Atem entwich mit einem Schnauben ihrem Körper und ihre Schultern sackten herab. War das derselbe Mann, der sie letzte Nacht bedrängt hatte? Konnte er sich so verwandeln? Oder hatte sie das alles nur geträumt?
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich am Vormittag eine Bootstour mit Ole machen wollen. Ich glaube, wir sollten mal miteinander reden. So von Mann zu Mann.“ Ole lächelte sie an. „Wäre das für dich in Ordnung? Ich weiß, ich hatte gesagt, es wäre unser Ausflug und ich würde die Zeit auch viel lieber mit dir verbringen.“
Bentje blinzelte ungläubig.
„Ich hoffe einfach, dass Ole sich dann etwas einkriegt und wir es danach zusammen insgesamt entspannter haben. Was meinst du?“
Bentje schwieg. Ihre Zunge lag wie eine gestrandete Qualle in ihrem Mund, unfähig, einen Laut zu artikulieren.
„Ich wusste, du würdest das verstehen“, sagte Georg, küsste sie auf die Wange und wandte sich dem Wohnmobil zu. „Ich habe uns Brötchen mitgebracht. Deckst du den Tisch? Dann können wir frühstücken, sobald Ole wieder da ist.“
*****
Ole fragte sich, warum Bentje noch immer nicht abgehauen war. Was fand sie bloß an seinem Vater, dass sie sich das alles bieten ließ? Der bombastische Sex der letzten Nacht konnte es ja kaum sein. Ole kicherte in sich hinein.
„Da hat aber jemand gute Laune, heute Morgen“, sagte Georg und zwinkerte ihm zu.
Oles Lächeln gefror. Wortlos setzte er sich an den kleinen Campingtisch, den sein Vater neben dem Wohnmobil aufgestellt hatte. Die bescheuerte Nuss hatte Butter, Marmelade, Käse und Milch rausgetragen, ganz wie es sich für die brave Hausfrau gehörte. Ole trank einen Schluck Kaffee. In totaler Stille war er gemeinsam mit seinem Vater zum Bäcker gegangen. Dort hatten sie Brötchen und Kaffee für alle eingekauft und waren ebenso schweigend zurückgetrottet. Was gab es zu reden mit einem Mann, für den er nichts als Verachtung übrig hatte. Schon als Kind hatte er gecheckt, dass mit seinem Vater etwas nicht stimmte. Mal war er superfreundlich, kaufte Geschenke, erwärmte sich für Oles Fußballtraining. Manchmal durfte Ole seine Freunde einladen und sie unternahmen alle gemeinsam Ausflüge. Doch schon am Abend konnte die Stimmung kippen. Dann war er nervös, angriffslustig und gemein zu Oles Mutter. Er hatte sie nie geschlagen – zumindest nicht, dass Ole wüsste. Trotzdem hatte sie manche Nacht weinend auf der Couch im Wohnzimmer verbracht.
Eines Tages kam Ole nach Hause und seine Sachen standen gepackt im Flur. Seine Mutter zog aus und nahm ihn mit. Anfangs war Ole fast ein bisschen traurig, doch schon bald merkte er, wie entspannt und unbeschwert das Leben ohne seinen Vater war. Nachdem Georg ein paar der geplanten Vater-Sohn-Wochenenden abgesagt hatte, weigerte Ole sich, ihn überhaupt noch zu treffen. Meistens kam er damit durch. Doch in letzter Zeit, seit er mit seiner Mutter öfter Zoff hatte, bestand sie darauf, dass Georg nun mal sein Vater sei und es wichtig wäre, dass sie einen guten Draht zueinander hätten. Pah! Ole kam prima ohne seinen Erzeuger klar. Und einen Draht gab es zwischen ihnen schon längst nicht mehr. Ole war sicher, dass sein Vater keine Ahnung hatte, dass er das Fußballtraining vor einiger Zeit geschmissen hatte und jetzt im Schützenverein war. Bogenschießen und Kleinkaliber hatten es ihm speziell angetan. herold_wolf hatte versprochen, ihn mit auf die Jagd zu nehmen, wenn sie sich endlich einmal live treffen würden. Bisher hatte das nie geklappt, aber Ole fieberte dem Tag entgegen.
Das ewige Gelaber von Kameradschaft und Team beim Fußball, dieses Märchen vom „auf dem Platz sind wir alle gleich“, das war ihm voll auf die Nerven gegangen. Und es war ohnehin gelogen. Jeder spielte nur für sich, alle foulten, was das Zeug hielt und wenn sie Glück hatten, wurden sie nicht erwischt. Fair Play und sich an die Regeln hatten – das war schon längst vorbei. Ole hatte keinen Bock mehr auf diesen verlogenen Scheiß und sich nach was Besserem umgesehen.
Schießen war cool. Da ging es nur um ihn und seine Atmung. Die Scheibe verriet, wie erfolgreich oder eben nicht er geschossen hatte. Da bedurfte es keiner Diskussion. Und es gab niemanden, der ihm seinen Erfolg vermasselte.
„Gib mir mal die Brötchen!“ Georg stieß ihn an und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Da muss doch irgendwo mein Mohnbrötchen in der Tüte sein“, sagte er und schnappte sich die Papiertüte, die Ole ihm hinhielt. Er fischte das gewünschte Brötchen heraus, legte Bentje ungefragt eins auf den Teller und reichte ihm die Tüte zurück.
Was für ein Arsch, dachte Ole, zog sich ein Kaisersemmel raus, bestrich es mit Butter und kaute lustlos darauf herum.
„Ich habe mir überlegt, dass wir zwei heute Morgen eine Bootstour machen“, sagte sein Vater.
Ole verschluckte sich und hustete Brötchenkrümel in die Luft.
„Was hältst du davon?“
Das Husten bewahrte Ole davor, seinen spontanen Gedanken laut rauszuhauen. Gar nichts hielt er davon. Ihm fielen eine Million Sachen ein, die er lieber täte, als alleine mit seinem Vater in einem verkackten Boot über das Meer zu schippern.
„Hm, okay“, sagte er stattdessen. Es galt nur noch ein paar Stunden durchhalten, bis seine Rettung kam. Das sollte doch zu schaffen sein.
*****
Bentje seufzte, als Georg und Ole loszogen. Sie hatte sich gern bereit erklärt, den Abwasch und das Aufräumen zu übernehmen. Dass sie sich nur danach sehnte, alleine zu sein, hatte sie nicht gesagt. Sie hoffte, sich sortieren und einen Plan fassen zu können, wenn sie endlich für sich wäre.
Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis die beiden schließlich aufbrachen. Nun saß Bentje einsam neben dem Wohnmobil, den leeren Kaffeebecher in der Hand und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gelang ihr nicht.
Geschirrklappern, Radiogedudel und munteres Lachen drang aus den umliegenden Campingbussen und Zelten zu ihr herüber. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und ließ das Gras unter ihren Füßen grün leuchten. In den Bäumen saßen Vögel und begrüßten zwitschernd den jungen Tag. Eine bunte Fahne mit dem Logo des Campingplatzes knatterte im Wind, der den Duft des Meeres zu ihr trug. Um sie herum pulsierte das Leben. Doch in ihrem Innern fühlte sie sich schmutzig und wie versteinert.
Sie konnte unmöglich gemeinsam mit Georg hierbleiben. Seine verblüffend liebenswürdige Art am Morgen täuschte nicht darüber hinweg, dass er sich in der Nacht schäbig daneben benommen hatte. Der Schreck saß Bentje tief in den Knochen. Sie wollte nur noch weg.
Leider saß sie hier fest - auf diesem Campingplatz am Meer, weitab vom nächsten Ort oder Bahnhof. Abgesehen davon konnte sie sich eine Rückreise auf eigene Faust gar nicht leisten. Sie hatte kaum Geld mitgenommen, Georg hatte sie ja eingeladen. Um nicht Gefahr zu laufen, bestohlen zu werden oder etwas zu verlieren, hatte sie lediglich ihr Reiseportemonnaie mit Kleingeld, ihrem Personalausweis und der Krankenversichertenkarte bestückt und den Rest zuhause gelassen. Wie konnte sie nur so dumm sein, fragte sie sich zum hundertsten Mal.
Mit dem Wohnmobil durchbrennen kam nicht in Frage. Georg hatte ihr zwar den Schlüssel dagelassen, doch sie hatte gar keinen Führerschein. Sie war wohl schon einmal mit einem Auto auf einem Feldweg gefahren. Aber dieses riesige Monstrum etliche hundert Kilometer über Autobahnen zu lenken, traute sie sich nie und nimmer zu.
„Denk nach!“, ermahnte sie sich selbst.
Sie stand auf und räumte das Frühstück ab. Gewöhnlich konnte sie in Bewegung besser nachdenken. Sie stellte die Lebensmittel weg, spülte das Geschirr und wischte den Tisch ab. Als alles fertig war, stand sie ebenso ratlos wie vorher auf dem Rasen. Ihr Blick fiel auf ihre Reisetasche, die neben Hosen, Blusen, Socken, Unterwäsche und Shirts an der Wäscheleine hing, die sie am Abend zuvor zwischen dem Wohnmobil und einem nahen Ahorn gespannt hatte. Sie brauchte ihre Nase nicht an die Wäsche halten, um zu wissen, dass sie noch immer stank. Der leichte Geruch von Benzin hing ununterbrochen in der Luft.
Resignation klatschte Bentje ins Gesicht. Sie atmete hektisch ein und aus, gleichzeitig liefen ihr die Tränen über die Wangen. Hilflos sank sie zurück in den Campingstuhl, schlug die Hände vor die Augen und weinte hemmungslos.
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