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Urlaub auf Abwegen - zehnter Teil

Ole starrte dem davonfahrenden Wohnmobil einen Augenblick fassungslos hinterher. Ein Laut seines Vaters löste seine Starre und er drehte sich um. Auf dem nassen Rasen lag Georg zusammengekrümmt auf der Seite, hielt die Arme schützend über den Kopf und stieß wehklagende Schreie zwischen röchelndem Atem hervor.

Die Freunde von herold_wolf, von denen Ole einmal gedacht hatte, dass er sie gern auch seine Freunde nennen würde, hatten aufgehört, ihn zu traktieren. Mit nach Belohnung heischenden Grimassen standen sie neben ihrem Opfer, Blut an den Händen und Schuhen, und schauten erwartungsvoll zu Ole.

„Der hat seine Abreibung weg“, sagte der Kerl mit dem Baseballschläger und trat neben seine Kumpel.

„So weit, so gut?“, fragte ein anderer.

Ole, zu geschockt und verängstigt, um zu wissen, was er sagen sollte, wackelte nur mit dem Kopf. Er meinte ein verneinendes Kopfschütteln. Gar nichts war gut. So hatte er das nicht gemeint. Und damit wollte er auch nichts zu tun haben. Ebenso wenig, wie mit den brutalen Schlägern und dem verrückten herold_wolf, der einem Jungen, den er nur aus dem Internet kannte, mir nichts dir nichts seine Söldner schickte.

Die Männer aber nahmen es scheinbar als Nicken. Sie reckten die rechte Hand zum Gruß in die Luft und verabschiedeten sich mit den Worten: „Gern geschehen, Sportsfreund!“ So schnell wie sie in ihrem rostzerfressenen Auto aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder im Regen.

Ole stolperte zu seinem Vater, setzte sich neben ihn auf das nasse Gras und berührte vorsichtig mit der Hand Georgs rechte Schulter.

Es kam ihm vor, als hätten sie eine Ewigkeit so zugebracht, als blinkendes Blaulicht und eine schrille Sirene die Ankunft des Krankenwagens bedeutete.

 

*****

 

Bentje fuhr. Bald hatte sie den Dreh raus, ein Gefühl für das Gewicht des Fahrzeugs und die Kupplung entwickelt und fühlte sich mit jedem Meter, der hinter ihr lag, sicherer.

Als sie in ihren nassen Sachen anfing zu frieren, drehte sie die Heizung voll auf. Ebenso das Radio. Je lauter es spielte, umso weniger klare Gedanken formten sich in ihrem Kopf. Sie wollte nicht nachdenken, das Geschehene nicht rekapitulieren, sich an keine Bilder erinnern. Sie wollte einfach nur weg. Nach Hause. Raus aus diesem Albtraum.

Es dämmerte, als Bentje die Autobahn verließ. Eine Stunde noch, schätzte sie, dann wäre sie daheim. Sie würde sich mit einer Flasche Wein in die Badewanne setzen und hinterher mit einer Schlaftablette ins Bett kriechen. 

Es rumste und ruckelte. Bentjes Herz blieb stehen. Gleichzeitig schlug etwas Dunkles gegen die Windschutzscheibe. Das Wohnmobil schlingerte. Bentje hatte alle Mühe, das Lenkrad festzuhalten und das Fahrzeug in der Spur zu halten. Durch dunkle Schlieren auf der Scheibe erkannte Bentje ein Schild, dass auf einen Parkplatz vor ihr hinwies.

Sie setzte den Blinker und fuhr auf den geschotterten Platz. Keuchend schaltete sie den Motor aus, das Radiogedudel erstarb. Sie lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück, schloss die Augen und sammelte sich. Zuletzt nahm all ihren Mut zusammen und verließ das Wohnmobil. 

Sie sah das Malheur sofort. Halb auf der Frontscheibe, die andere Hälfte auf der kurzen Motorhaube lag ein Hirsch und zuckte mit den Hinterläufen. 

Bentje wimmerte. Ihr Blut zog sich in den Rumpf zurück, Arme und Beine kribbelten. Ihr Kopf war leergefegt. Jemand außerhalb ihres Körpers schien die Kontrolle übernommen zu haben. Zumindest fußte keine Bewegung auf einer bewussten Entscheidung ihrerseits. Es war eher so, als stünde sie neben sich und sähe sich zu, bei allem, was sie tat.

 

*****

 

Georg erwachte und stöhnte auf. Schmerz stürmte durch seinen Körper, aus seinem unteren Rücken durch seine Eingeweide und den Brustkorb weiter nach oben, bis er sich pochend im Schädel festsetzte. Mühsam öffnete er ein Auge, das andere bewegte sich keinen Millimeter. Misstrauisch sah er sich um. Er lag in gestreifter Bettwäsche in einem Zimmer mit hellgelben Wänden. In seinem Arm steckte eine Nadel, durch die eine farblose Flüssigkeit in ihn hinein tropfte. Schmerzmittel, hoffte er. Sein rechter Arm lag eingegipst schwer und nutzlos neben ihm. Zwei Finger der linken Hand waren aneinander getaped.

„Papa?“

Der Lärm schoss eine neue Schmerrakete durch seinen Kopf und er kniff das Auge instinktiv zu. Als er es wieder öffnete, sah er Ole am Fußende seines Bettes stehen. Er war blass und kleiner, als Georg ihn in Erinnerung hatte. Seine Augen schauten bange auf ihn herab.

„Papa?“, fragte er noch einmal.

Georg konnte sich nicht erinnern, wann Ole ihn zuletzt so genannt hatte. Wie Balsam legte sich dieses Wort aus dem Mund des Jungen auf seine schmerzenden Wunden. Vorsichtig hob er die linke Hand. Sofort eilte Ole an seine Seite und griff danach.

„Es tut mir so leid“, platzte es aus ihm heraus und er begann zu weinen. „Ich habe das nicht gewollt. Ich wusste nicht, dass ...“

Georg brachte ein „Schhh!“ zustande. Das Geräusch der Worte dröhnte zu heftig. Er wollte nichts hören. Er brauchte keine Erklärung. Mit Ole hier zu sitzen, Vater und Sohn, das reichte ihm fürs Erste vollkommen.

 

*****

 

Bentje griff den Hirsch bei den kurzen Hörnern und zog ihn von der Front des Wohnmobils herunter. Das arme Tier röhrte und zuckte. Blut floss aus einer großen Wunde an seinem Hals und ergoss sich auf ihre Hände, ihren Rock, den Schotter. Die Töne des Hirschs waren kaum auszuhalten. Sie musste ihn von seiner Qual erlösen. 

Bentje kletterte in den Wohnraum des Mobilheimes und sah sich um. Sie schnappte sich zwei Flaschen Wasser und Oles Rucksack, stieg aus und legte alles neben ein Hinterrad. Danach kroch sie in den unteren Stauraum. Sie hatte Glück. Es roch nicht nur nach Benzin in dem Verschlag. Sie fand auch einen gefüllten Ersatzkanister und stellte ihn zu Wasser und Rucksack.

Der Hirsch lag mittlerweile still da, doch in seinen trübe glänzenden Augen erkannte Bentje den Rest Leben und seine Not. Beherzt packte sie zu und zerrte und hievte das Vieh unter seinem Protestgeheul in den Wohnbereich des Campers.

Nachdem das vollbracht war, zog sie ihre blutverschmierten dreckbesudelten Klamotten samt Schuhe aus und warf sie achtlos ins Wohnmobil. Die erste Flasche Wasser benutzte sie, um sich notdürftig zu reinigen. Insbesondere ihre Hände rieb sie mit vielen kleinen Wassermengen so lange, bis alles Blut abgewaschen war. Zumindest so weit sie das in der nächtlichen Finsternis zu beurteilen vermochte. 

Aus der zweiten Flasche trank sie gierige Schlucke, ehe sie sie zuschraubte und in Oles Rucksack steckte. Daraus zog sie die erstbesten Kleidungsstücke hervor, die ihre Hand ertastete und schlüpfte eilends in eine kurze Hose und den von Ole so geliebten Kapuzenpullover. 

Sie griff sich den Ersatzkanister und stieg ein letztes Mal in das Wohnmobil. Mit seiner Existenz würde auch ihr Horror enden, hoffte sie.

Rasch goss sie den Inhalt des Kanisters über Sitze, Bett, Schränke und den Hirsch. Der Geruch ließ sie taumelnd zurückstolpern. Aus den Tiefen von Oles Rucksack kramte sie sein Feuerzeug hervor, hielt es an den festen Stoff und warf ihn brennend in das Wohnmobil. Einen Moment sah sie den Flammen zu, die erst zögerlich, gleich darauf aber schnell anwachsend durch das Fahrzeug tobten. Sie verhinderten einen letzten Blick auf den Hirsch, wofür Bentje dankbar war.

Sie zog die Kapuze über den Kopf, atmete tief ein, hielt die Luft eine Weile an und wandte sich mit dem Ausatmen ab. Sie überquerte eine Wiese und steuerte auf den Wald zu. Mit jedem Schritt schüttelte sie Georg mehr und mehr ab. Als sie den Waldrand erreichte, schaute sie sich ein letztes Mal um. Entschlossen kehrte sie der Vergangenheit den Rücken und trat den Heimweg an.

 

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