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Urlaub auf Abwegen - siebter Teil

Bentje schreckte auf. Sie musste eingeschlafen sein. Kein Wunder, nach der schlaflosen Nacht. Ihr Nacken schmerzte von der unbequemen Sitzposition. Sie legte das Buch zur Seite, stand auf und reckte ihre Glieder. Dicht neben ihr fuhr ein SUV samt Wohnwagen über den schmalen Pfad Richtung Ausgang. Das Knirschen der Reifen auf dem Schotter hatte sie geweckt.

Ich könnte fragen, ob mich jemand mitnimmt, schoss es Bentje durch den Kopf. Doch prompt verließ sie der Mut. Womöglich fuhren die in eine völlig andere Richtung. Im Übrigen wusste man nie, an wen man geriet. Bei ihrem untrüglichen Gespür für die falschen Menschen kam sie vermutlich vom Regen in die Traufe.

Bentjes Magen knurrte. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass Georg und Ole schon seit Stunden unterwegs waren. Ein Anflug von Sorge flatterte in ihr auf. Sie schalt sich eine Närrin und schüttelte den Kopf. Je länger die beiden fortblieben, umso weniger Zeit war sie gezwungen, mit ihnen verbringen. Zugegeben, es zögerte auch die Heimreise hinaus. Aber Bentje war zuversichtlich, dass sie der Gesellschaft von Vater und Sohn besser gewachsen wäre, wenn sie jetzt mehr Zeit für sich hätte. 

Der Hunger trieb sie in das Wohnmobil. Vom Frühstück waren Brötchen übrig geblieben und etwas Obst ließ sich außerdem finden. Bentje stand an der winzigen Küchenzeile des Campers und bereitete ihre Mahlzeit vor. Hinter ihr vibrierte wiederholt ein Handy. Sie sah sich um und entdeckte Oles Smartphone auf seinem Bett. Es lugte mit einer Ecke unter dem Kopfkissen hervor, worunter Ole es vermutlich deponiert hatte. Jedes neue Vibrieren schob es ein kleines Stück weiter weg vom Kissen. Bentje rang mit sich. Sie würde nur einen kurzen Blick darauf werfen. Das war doch kein Schnüffeln. Eventuell war es etwas Wichtiges. Womöglich versuchte Oles Mutter, ihn zu erreichen, und starb vor Sorge, weil der seit Stunden nicht reagierte. Dann war es sogar nobel, wenn Bentje ihr half, die Befürchtungen zu vertreiben. 

Hastig griff sie nach dem Telefon und erschrak, als es in ihrer Hand erneut erbebte. Das Display zeigte den Eingang von vierzehn neuen Nachrichten, alle von einem Forum namens Thiazin. Eine schwarze Sonne war neben den Namen der Absender zu sehen. Die wiederum waren vier verschiedene. Einer hieß schlicht Siegfried, ein anderer hatte nur Zahlen als Absendernamen. 13/4/7 stand dort. Ein dritter nannte sich RaHoWa. Vor allem der letzte Name ließ eine Gänsehaut über ihren Körper laufen. HKNKRZ lautete der Versendername. 

Bentje kümmerte sich nicht um Politik und kannte sich nicht aus. Aber diese Verkürzung ängstigte sie, was sich mit plötzlicher Übelkeit in ihrem Magen manifestierte.

„1730 erwartete Ankunft“, stand dort. Eine andere Nachricht bat um Bestätigung des Auftrages. Eine dritte fragte nach dem Weg.

Bentje warf das Handy zurück aufs Bett, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt. Bestürzt starrte sie auf das Display, das noch einen Moment die leuchtenden Nachrichten anzeigte und dann erlosch. 

 

*****

 

Getränke und Cracker waren mittlerweile alle. Georg hatte nachgegeben und Ole Bier trinken lassen. Irgendetwas brauchte der Junge bei dieser Plackerei, um seinen Durst zu löschen. 

„Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen“, hatte er mahnend gesagt und seinem Sohn eine Getränkedose gereicht.

Sie hatten sich angestrengt und angebrüllt, Pause eingelegt, einen neuen Versuch gestartet und waren trotzdem noch immer weit entfernt vom Strand. Der Wind hatte zugenommen, blies ihnen heftig entgegen und trocknete ihre Klamotten auf der Haut. Gewitterwolken türmten sich am Himmel auf. Es wurde höchste Zeit, an Land zu gehen.

Georg musste sich eingestehen, dass er die Kraft des Meeres unterschätzt hatte. Er hatte sogar erwogen, einen Hilferuf abzusetzen und sich von der Wasserrettung aufsammeln zu lassen. Doch dieser klägliche Moment war vorbei und in Ermangelung eines Handys hatte er auch keine Idee, wie er Hilfe rufen sollte.

Deshalb hatte er zuletzt entschieden, dass Oles Tipp einen Versuch wert wäre. Und es schien zu klappen. Langsam aber sicher näherten sie sich auf ihrer schräg zu den Wellen verlaufenden Route dem Festland. Georg war erleichtert, würde das aber Ole gegenüber niemals zugeben. Nicht dass der Junge wähnte, er sei seinem Vater in irgendeiner Form überlegen.

Endlich am Steg angekommen, hatte Georg nichts anderes mehr im Kopf, als eine Toilette und ein ordentliches Steak. Dafür war er gerne bereit, die Auseinandersetzung mit Ole für eine Weile aufzuschieben. Erst einmal galt es, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Erziehung kam später. 

Zu seiner Freude schienen sie sich in diesem Punkt endlich einmal einig zu sein. Nicht einträchtig, aber schweigend Seite an Seite stopften sie Fleisch, Pommes und Gemüse in sich hinein, als kämen sie von einer Wüstenexpedition zurück, bei der es nur Wasser und Datteln gegeben hatte.

 

*****

 

Es fiel Ole unendlich schwer, seinem Vater nicht mit einem fetten Grinsen im Gesicht gegenüber zu sitzen. Was für ein Versager. Es war wirklich eine Schande, dass jemand wie Georg sich fortpflanzte. Was sollte man von einem wie ihm lernen?

Letztlich hatte Ole triumphiert. Sein Rudermanöver hatte sie zurück an Land gebracht. Zwischenzeitlich hatte Ole sich an der wachsenden Verzweiflung seines Vaters ergötzt. Aber zuletzt hatte es ihn gelangweilt. Und nicht nur das. Schon bald kämen die Freunde von herold_wolf und bereiteten Oles Rache ein grandioses Fest. Er konnte es kaum erwarten.

 

*****

 

Bentje lief kopflos neben dem Wohnmobil auf und ab. Was sollte sie machen? Georg ihre Beobachtungen berichten? Ole direkt darauf ansprechen? Oder besser gar nichts sagen, den Kopf einziehen und hoffen, dass sie bald zu Hause und die beiden für immer los wäre?

Bezog sich „1730 erwartete Ankunft“ auf hier und heute? Dann musste sie unverzüglich handeln. Aber wie? 

In der Ferne grummelte Donner. Bentje sah den schnell ziehenden Wolken am Himmel hinterher, die sich in der letzten halben Stunde stetig dunkler gefärbt hatten. Wo blieben die beiden nur? Sie konnten doch unmöglich noch immer mit dem Boot unterwegs sein. Bei Gewitter auf dem offenen Meer – das war gefährlich.

Bentje kaute am Fingernagel ihres kleinen Fingers und lief weiter hin und her. Was jetzt? Denk nach! Es war ihr unmöglich, bloß stillzusitzen und abzuwarten.

Mit einem Ruck kam sie zum Stehen und nickte, um sich selbst in ihrem Entschluss zu bestätigen. Dann schnappte sie ihre Handtasche, verriegelte den Camper und machte sich auf den Weg zum Strand.

 

*****

 

„Komm schon, wir müssen zurück.“ Sein Vater legte ein ordentliches Tempo vor. „Bentje hat sicher längst eine Vermisstenanzeige aufgegeben.“

„Wer’s glaubt“, murmelte Ole.

„Was?“ Georg blieb stehen. „Was meinst du damit?“

„Nichts.“

„Wie – nichts?“

Ole zuckte mit den Schultern.

„Gönnst du mir mein Glück mit Bentje nicht? Ist es das?“ Georg hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. „Bist du deswegen die ganze Zeit so unausstehlich?“

Ole trottete hinter ihm her, blieb aber still.

„Oder hat deine Mutter dich gegen mich aufgehetzt?“

„Nein!“ Auf seine Mutter ließ er nichts kommen, auch wenn sie in letzter Zeit oft stritten.

Georg musterte ihn misstrauisch.

„Okay. Was dann?“, fragte er.

Ole wirbelten unzählige Antworten durch den Kopf. Tausend Sätze, um seinem Vater zu sagen, was er an ihm alles auszusetzen hatte. Aber er riss sich zusammen. „Ich sag doch. Nichts.“

Die ersten Tropfen landeten auf Oles bloßen Armen. Wäre Beherrschung in Wärme messbar, würden sie verdampfen, ehe sie seine Haut berührten. 

„Lass uns einen Zahn zulegen“, sagte sein Vater und blickte besorgt gen Himmel. „Da öffnen sich gleich die Schleusen.“

Sie schafften es halbwegs trocken bis zum Wohnmobil, nur um dort festzustellen, dass es verschlossen und Bentje verschwunden war.

 

*****

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