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Aufbruch

Als ich erwache, liegt der Faden am Fuß des Bettes. Ich ziehe  mich an. Alles schläft. Der Himmel hat eine verwaschene Farbe. Im Osten steht der Stern. Ich greife den Faden auf und folge ihm. Wohin wird er mich führen?

 

Ich greife nach dem Faden und gehe los, hangele mich an ihm entlang, hinaus aus dem Haus und hinein in die Kälte des Winters.

Wohin der mich wohl leitet? Abrupt bleibe ich stehen? Will ich dem Faden tatsächlich folgen? Bisher hielt ich mich nicht für jemanden, die einfach so irgendetwas oder irgendjemandem hinterherläuft. Ich bin eher stolz darauf, mir eine eigene unabhängige Meinung zu bilden und dem Mainstream immer erst einmal skeptisch gegenüberzustehen. Und nun folge ich diesem Faden, den irgendjemand für mich ausgelegt hat? Und warum eigentlich? Was will dieser jemand erreichen? Rein altruistisch und nur zu meinem Besten wird es wohl kaum sein ... Dass Gott mir diese Schnur ausgelegt hat, halte ich dann doch für unwahrscheinlich.

Der Faden schaukelt auf meinem Zeigefinger hin und her. Ich schaue mich um. Der Tag ist erwacht, die Menschen eilen an mir vorüber: zur Arbeit, zum Einkauf, zum Arzt, in die Bank. Niemand nimmt Notiz von mir oder dem Faden. 

Es wäre ein Leichtes, ihn unbemerkt von meinem Finger rutschen und zu Boden gleiten zu lassen. Ich könnte umkehren und niemand würde je erfahren, dass ich mich von einem schnöden Faden habe verleiten lassen.

Aber da ist auch dieses Kribbeln in mir. Eine Neugierde, eine Hoffnung. Vielleicht führt der Faden mich zum Ziel. 

Welches Ziel? – frage ich mich kurz, schiebe den Gedanken aber rasch beiseite. Er verträgt sich nicht mit meiner Sehnsucht. Zu schön der Gedanke, anzukommen. 

Wo eigentlich? Bei Gott? Beim Stall? Bei mir?

Frag nicht so viel! Geh los! Lass dich überraschen. Trau deiner Sehnsucht. Achte auf Wunder. Halte Ausschau – vielleicht triffst du Gott.

Ich umfasse den Faden fest mit der Hand, atme die frische Winterluft ein und breche auf.

 

inspiriert vom Adventsschreiben mit Susanne Niemeyer / freudenwort.de

Bild: Reinhard Philippi  /pixelio.de

 

 

 

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