· 

Vorhang auf

„Hereinspaziert“, ruft Gott. Ihr Mantel weht rot im Wind. Zirkus steht in goldenen Buchstaben auf dem Zelt. Innen zieht es. Am Himmel hängen Lichterketten, wenn man die Augen zusammenkneift, sehen sie aus, wie Sterne. Es riecht nach Tieren. Die Kapelle besteht aus fünf Engeln. Der mit der Tuba hat sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt und gibt den Einsatz. Die wenigen Besucher wirken verloren, und auch ich überlege, mich unauffällig davonzustehlen. Da jauchzt plötzlich ein kleines Mädchen auf. Ihr Lachen hüpft durch die Manege. Ich folge ihm und sehe, was sie sieht: Gott mit roter Nase und viel zu großen Schuhen.

 

Sie stolpert durch die Besucherreihen und zieht einen langen Streifen Papier hinter sich her. Köpfe werden gedreht und Hälse gereckt. Alle beobachten gespannt, was sie als Nächstes tut. Einige, an deren Plätzen sie dicht vorbeikommt, versuchen zu sehen, ob etwas auf dem Papier steht. Doch Gott dreht sich fröhlich lachend einmal um die eigene Achse und macht es so unmöglich, irgendetwas zu erkennen. 

Die Engel stimmen eine zarte Melodie an. Sie scheint mir vertraut, doch ich komme nicht dahinter, was es ist. Das Mädchen pfeift die Tonfolge freudig mit.

Ein Esel betritt die Manege. Auf seinem Rücken sitzt eine zierliche Frau und winkt dem fröhlich lachenden Mädchen. Ein bärtiger Mann folgt gleich darauf, er treibt ein junges Rind vor sich her. Gemeinsam bleiben sie in der Mitte der Arena stehen.

Ich sehe mich stirnrunzelnd um, suche nach Gottes rotem Mantel. Irgendjemand muss doch hier für Ordnung sorgen. Ehe ich sie entdecke, betreten drei weitere Artisten das sandige Rund. Sie jonglieren mit glitzernden Päckchen. Jeder von ihnen hält fünf in der Luft, hin und wieder werfen sie sich gegenseitig eines zu und tauschen so die funkelnden Boxen untereinander. 

Auf dem kleinen Mäuerchen, das die Manege umgibt, hat mittlerweile eine Horde Jungen Platz genommen. Sie tragen Fellwesten und lange Stäbe, zu ihren Füßen liegen Schafe und Lämmer und dösen vor sich hin. Das kleine Mädchen gluckst vor Freude und klatscht in die Hände.

Ich reibe mir die Augen. Doch sie trügen mich nicht. Durch den geöffneten Vorhang schreitet ein junger Mann. Er läuft barfuß und trägt lediglich eine dunkle Lederhose. Die Muskeln seines Oberkörpers sind klar definiert, er ist kräftig, aber entspannt. Obwohl an seiner rechten Seite ein ausgewachsener Löwe die Manege betritt. Seine dunkle Mähne umrahmt ein Gesicht, dessen Augen prüfend in die Runde schauen.

Ich halte die Luft an. Der junge Mann bewegt sich langsam am Rand der Arena entlang, den Löwen immer an seiner Seite. Zuletzt dirigiert er das Tier an den Rand, wo der Löwe sich gähnend neben einem Lamm in den Sand legt.

Das kleine Mädchen hüpft aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Sie klatscht noch immer. 

Plötzlich fliegt etwas an mir vorbei. Ich erschrecke und sehe mich um. Hoch oben im Zelthimmel schweben einige Engel am Trapez hin und her. Sie lassen leuchtendes Glitzern auf die Besucher herabregnen. Auch auf meiner Jacke sammelt sich funkelnder Schimmer. Die Engelsposaunen blasen einen Tusch. Die Jongleure fangen ihre Päckchen auf und legen alle, bis auf je eins in den Sand zu ihren Füßen. Alle Artisten stehen in der Manege beieinander und schauen lächelnd zu den Besuchern. Die Kapellenengel, die Frau und der bärtige Mann, die Jongleure mit Päckchen in der Hand, die Hirtenjungen und der junge Mann in Lederhose.

Ein Brüllen des Löwen lässt das Zelt erzittern, doch ich bleibe – wie alle anderen auch – gelassen und unbesorgt.

Gott ist mittlerweile ebenfalls in der Manege angekommen. Sie winkt noch einmal zu dem jungen Mädchen hinauf, das glücklich zurückwinkt. Ihr Gesicht strahlt, ihr Lachen legt sich auf alles und jeden im Zirkuszelt und vermischt sich mit dem Glänzen des Engelstaubs. 

Mit einer weit ausholenden Bewegung schickt Gott den langen Papierstreifen hinauf zu den Trapezengeln. Sie ergreifen ihn, drehen ihn bei ihren Schwüngen ein, so dass ein dickes Seil entsteht. An ihm lassen sich langsam zu Boden gleiten und stehen endlich in der Mitte bei den anderen. Alle strahlen, das kleine Mädchen lacht und klatscht und verströmt soviel kindliche Freude, wie ich lange nicht erlebt habe. 

 

Der Engel mit der Tuba bläst einen neuen Ton. Schrill ist er. Er stört das harmonische Miteinander. Immer wieder erklingt der Laut, monoton aufeinanderfolgend. 

 

Ich erwache, bringe den Wecker seufzend zum Schweigen und spüre dem Lachen des jungen Mädchens auf meinem Gesicht nach. Als ich die Bettdecke zur Seite schlage, füllt glänzendes Funkeln die Luft.

 

inspiriert durch das Adventsschreiben mit Susanne Niemeyer / Freudenwort.de

Bild: Erich Westendorf / pixelio.de

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Diana (Donnerstag, 17 Dezember 2020 09:44)

    So was mag ich �
    Sehr schöne Idee