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Kleine Geschichte

„Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?“, fragt der Engel und schaut mir zu, während ich die Geschenke für die Nachbarn verpacke.

Zeit – ist das Erste, das mir einfällt, doch ich beiße mir auf die Zunge. Natürlich weiß ich, dass mein Zeitproblem hausgemacht ist, dass ich es mit besserer Struktur, weniger Scrollen im Handy, bewussteren Entscheidungen und heruntergefahrenem Perfektionismus gut selbst lösen könnte. Wenn ich bei dem Engel Wünsche anmelden kann, dann sollte es also besser etwas sein, das schwerer verfügbar und dadurch kostbarer ist.

„Eine Wut-Ablage“, sage ich.

„Wie bitte?“

„Genau, ich wünsche mir eine Wut-Ablage“, bekräftige ich. „So, dass ich die Wut irgendwo ablegen kann und sie nicht mehr mit mir rumtragen muss. Von mir aus kann sie da verstauben. Vielleicht zerfällt sie auch einfach. Oder ich schaffe sie später dorthin, wo die hingehört. Um sie sozusagen endgültig abzuarbeiten, wenn mir danach ist.“

Ich habe mich in Rage geredet und alles um mich herum vergessen. Jetzt sehe ich, dass ein Streifen Tesafilm sich um meine Finger gewickelt und sie miteinander verklebt hat. „Siehst du!“, schnaube ich und halte dem Engel die Hand entgegen.

„Hmm“, sagt er und beginnt, den Klebestreifen sacht von meinen Fingern zu lösen. „Ich denke, ich schenke dir Gnade!“

„Gnade?“, frage ich entsetzt. „Warum das denn? Findest du, dass ich mit noch mehr Milde und Verständnis auf meine Umgebung schauen soll? Dass ich noch nicht genug für die Menschen um mich herum tue?“ Ich deute mit der Hand auf die Geschenke für die Nachbarn. „Ich finde ja, dass ich schon echt gnädig mit vielen bin!“

„Du hast mich falsch verstanden“, sagt der Engel und lächelt mich an. „Ich schenke DIR Gnade. Nicht als Auftrag, sie an die anderen zu verteilen. Nicht als Tu-Wort. Sondern als Du-Wort!“

Ich atme hörbar ein und dann lautlos wieder aus, ohne etwas zu sagen.

„Gnade für dich ganz allein! Damit du dich einmal mit Gnade ansiehst, sie für dich gelten lässt. Ja, ich denke, das ist das richtige Geschenk für dich“, sagt der Engel und geht.

Ich sinke auf einen Stuhl, betrachte das Chaos um mich herum und spüre den Worten des Engels in mir nach.

Gnade als Du-Wort.

Ja, das wünsche ich mir!

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Kommentare: 1
  • #1

    Iris Otto (Sonntag, 11 Dezember 2022 15:54)

    Danke für diese wunderbare Geschichte, liebe Andrea.