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Da sein

„Herr Isanta, kommen Sie, bitte!“ 

Manfred erhebt sich stöhnend, richtet sich mühsam auf, eine Hand ins Kreuz gedrückt, und folgt der Sprechstundenhilfe. 

„Warst du nicht vor ihm dran“?, flüstert Rita, die mir gegenüber sitzt, dem alten Karl zu. Der zuckt die Schultern.

„Doch, ich bin mir sicher“, zischt Rita und stupst ihn an. „Eigentlich warst du jetzt an der Reihe.“

Der alte Karl seufzt, zuckt noch einmal die Schultern und sagt: „Ich hab’s nicht eilig. Auf mich wartet eh niemand.“

Rita schnaubt.

Ich versuche, sie zu ignorieren, und mustere die übrigen Wartenden. 

Mareike sitzt dort mit ihrem Jüngsten auf dem Schoß, der schläfrig am Daumen nuckelt. Sie wiegt ihn sachte hin und her.

Im Stuhl neben ihr hängt Leon, Basecap auf dem Kopf, Stöpsel in den Ohren.

Ihm gegenüber tippt Conrad unaufhörlich auf seinem Handy.

Sieglinde sitzt still da und schaut aus dem Fenster, vor dem langsam die Dämmerung anbricht. 

„Aber das ist doch nicht in Ordnung, wenn sie den vor dir dran nehmen“, schimpft Rita noch immer. Sie trägt eine bunte Bluse, die mehr Fröhlichkeit ausstrahlt, als ihre Miene es je vermag. 

„Vielleicht ist es ja ein Notfall“, sagt der alte Karl und versucht, hinter seiner Zeitschrift zu verschwinden. 

„Was soll das denn für ein Notfall sein?“, giftet Rita so heftig, dass Mareikes Junge hochschreckt.

„Sch … sch …sch …“, macht sie und streicht ihrem Kind beruhigend übers Haar, während sie Kopf schüttelnd zu Rita schaut. 

„Was?“, blafft die zurück. „Ist doch wahr!“ 

Niemand antwortet. Ruhe kehrt ein. 

Doch nur einen Moment, dann kehrt Manfred zurück ins Wartezimmer, um seine Jacke zu holen.

„Das ging jetzt aber schnell“, staunt Rita. 

„Wohl doch kein Notfall“, sagt Conrad grinsend. 

„Notfall? Ich?“, fragt Manfred und wickelt seinen Schal um den Hals. „Nein, aber vielleicht demnächst in meinem Stall“, sagt er und verlässt die Praxis. 

„Hätte er da nicht besser zum Tierarzt gehen sollen?“, sagt Rita und schaut Bestätigung heischend in die Runde. Bevor jemand reagieren kann, ruft die Sprechstundenhilfe den alten Karl auf. 

„Na also“, raunt Rita und greift nach der Zeitschrift, in der Karl zuvor gelesen hat. 

Mareike wiegt ihren Jüngsten. 

Conrad tippt auf seinem Handy. 

Sieglinde schaut ins Dunkel. 

Ich sitze und warte.

Und plötzlich geschieht es. 

Mitten hinein in unser Warten und Schweigen, in unser Dunkel und unseren Alltag platzt ein Engel.

„Fürchtet euch nicht“, sagt er und verspricht uns „Friede auf Erden“. 

Und am Ende staunt Leon mit offenem Mund, liegt ein Lächeln auf Ritas Gesicht und spielt Conrad mit Mareikes Jüngstem, ehe wir alle gemeinsam Sieglinde folgen und in Manfreds Stall ein Wunder erleben.

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